#2 Essay: Das Kontrollparadoxon

#2 Essay: Das Kontrollparadoxon

von Ugur Erdem
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Als ich mit Emily sprach, der 19-jährigen Gründerin einer Modeplattform für die Gen-Z, fiel mir sofort ihre Sprache auf. Sie sprach nicht von „Marken“ im klassischen Sinn. Stattdessen sagte sie: „Unsere Leute spielen mit es.“ Ihre Community bastelte täglich neue Logos, remixte Designs, lieh sich Elemente von Luxusmarken, Straßenmode und Internet-Memes. „Wir brauchen keine festen Identitäten“, sagte sie. „Unsere Marke ist flüssig.“

„Als ich aufwuchs, war eine Marke ein Monument.“ „Als ich aufwuchs, war eine Marke ein Monument.“

Ich dachte an meine Kindheit in den 1980ern zurück. Damals war eine Marke wie eine Festung. Levi’s war Levi’s. Nike war Nike. Logos wurden aufwändig entworfen, geschützt, kontrolliert. Die Aufgabe des Marketings war es, diese Identität mit millionenschweren Kampagnen in den Köpfen der Menschen zu verankern.

Doch was Emily tut, ist etwas völlig anderes. Und es ist kein Einzelfall. 2025 erleben wir den Moment, in dem die alten Spielregeln der Markenbildung endgültig kippen. Jahrzehntelang haben Marken auf Stabilität, Wiedererkennbarkeit und Kontrolle gebaut. Doch jetzt beginnt sich die Markenwelt neu zu ordnen — in einem Muster, das wir nur begreifen, wenn wir uns die kleinen, scheinbar nebensächlichen Randphänomene genauer ansehen.

Die Geschichte von TravisBot


Im Frühjahr 2024 veröffentlichte ein Entwicklerteam eine KI namens TravisBot. Sie war darauf trainiert, in der Sprache von Rapper Travis Scott zu kommunizieren. Fans begannen, TravisBot Memes, Werbeslogans und sogar Produktideen generieren zu lassen — oft als Parodie, manchmal mit überraschender Tiefe.

Innerhalb weniger Wochen war TravisBot selbst zu einer Art Submarke geworden. Auf TikTok kursierten unzählige Videos, in denen Nutzer TravisBot-generierte Markenideen nachspielten. Bald boten Online-Shops T-Shirts an, die Sprüche des Bots trugen. Keine Genehmigung. Kein klassisches Branding. Und doch: Die Verkäufe explodierten.

Als Travis Scotts Label versuchte, die Bewegung zu kontrollieren, war es schon zu spät. Die Marke hatte sich von ihrem Urheber gelöst. Sie war in die Hände der Community übergegangen.

Der große Irrtum


Wenn wir an Marken denken, denken wir an Logos, Claims, Farben. Apple. McDonald’s. Nike. Uns wurde jahrzehntelang erzählt, dass Marken sichtbar sein müssen, um zu funktionieren.

Aber genau hier liegt der Irrtum. Marken waren nie nur Logos. Sie waren soziale Signale. Symbole von Zugehörigkeit. Ein Levi’s-Logo in den 1980ern bedeutete: Ich gehöre zur westlichen Jugendkultur. Ein Apple-Logo 2007: Ich bin kreativ, smart, anders.

Der amerikanische Soziologe Thorstein Veblen hat das schon 1899 beschrieben, in seiner Theorie des „demonstrativen Konsums“: Wir kaufen Dinge, nicht nur wegen ihres Nutzens, sondern weil sie Status und Gruppenzugehörigkeit signalisieren.

Doch was passiert, wenn Zugehörigkeit nicht mehr durch feste Symbole vermittelt wird, sondern durch fluide, ständig neu kombinierte Codes?

Drei Kräfte, die alles verändern

Drei Entwicklungen treiben diese stille Revolution voran:

1. Die Fragmentierung der Identität

Früher war eine Marke eine klare Erklärung an die Welt: „Hierfür stehen wir.“ Heute erwarten Konsumenten Widersprüche, Ambivalenzen und Vielstimmigkeit. Eine Marke, die nur eine Botschaft hat, wirkt eindimensional. Social Media, Memes und hybride Identitäten prägen eine Generation, die fluide Marken verlangt.

2. Die Auflösung der Autorität

Früher sprachen Marken „von oben“ mit ihren Zielgruppen. Heute entstehen Marken von unten. Communities, Subkulturen, Influencer und virale Trends bestimmen den Kurs einer Marke. Nike mag seine Botschaft kontrollieren wollen, aber wenn TikTok einen neuen Nike-Trend schafft, entsteht eine neue Submarke — oft völlig losgelöst von der Marketingabteilung.

3. Die Explosion durch Technologie

KI-gestützte Algorithmen erzeugen personalisierte Markenerlebnisse in Echtzeit. Jeder Konsument erlebt seine eigene Version einer Marke. Die Idee einer einheitlichen, zentral gesteuerten Identität löst sich auf.

Der Kipppunkt


Marken sind keine autoritären Erzählungen mehr. Sie sind soziale Konstruktionen, die permanent verhandelt werden. Im 20. Jahrhundert war eine Marke ein Monolog. 2025 ist sie ein Mem — ein offenes Netzwerk aus Bedeutungen.

Emily hat das längst verstanden. Als ich sie fragte, ob sie keine Angst habe, die Kontrolle über ihre Marke zu verlieren, lachte sie. „Kontrolle ist Oldschool“, sagte sie. „Unsere Community gibt uns die Energie. Je mehr sie übernehmen, desto lebendiger wird alles.“

Der Kipppunkt der Markenwelt ist erreicht. Nicht durch eine große Strategie. Sondern durch unzählige kleine, scheinbar bedeutungslose Handlungen, die sich plötzlich zur Revolution summieren.

Ugur Erdem
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